Q&A

Wenn die Ahnen in der Schweiz zur Schau gestellt werden

24.03.2024, 09:07 Uhr
· Online seit 24.03.2024, 06:48 Uhr
Mumien aus Ägypten, Knochen aus der Südsee oder Schmuck aus menschlichen Haaren. Diese Exponate menschlichen Ursprungs sind oft Teil kolonialer Kulturgüter und noch in einer Vielzahl in Schweizer Museen zu finden. Aber wem gehören sie und wie viele davon gibt es in der Schweiz? Eine Übersicht.
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Was sind menschliche Überreste?

Die Diskussionen und Forderungen um die Rückgabe von Raubkunst und Kulturgütern vergessen bisher noch häufig, dass auch sterbliche Überreste zu den kolonialen Sammlungen gehören. Denn öffentliche Sammlungen bewahren häufig Dinge, die heutzutage aus ethischen Gründen als sensibel und problematisch eingestuft werden. Als menschliche Überreste werden jegliche Körperteile einer ehemals lebenden Person – zum Beispiel Knochen, Zähne, konservierte Organe, Gewebe – bezeichnet. Darüber hinaus gehören auch Haare und Nägel dazu. Diese zählen zu Kulturgütern, die im Kontext des Kolonialismus den Ursprungsgemeinschaften entzogen und nach Europa gebracht worden sind.

Woher stammen die menschlichen Überreste?

Im Fokus in der Schweiz steht seit einigen Jahren die NS-Raubkunst, jedoch erhalten auch Kulturgüter, die im Rahmen der Kolonialisierung nach Europa und demnach auch in die Schweiz gebracht worden sind, immer mehr Aufmerksamkeit. Obwohl die Schweiz keine Kolonien hatte – im Gegensatz zu Deutschland, Frankreich und den Niederlanden –, liegen hierzulande in den Museen unter anderem menschliche Überreste aus Neuseeland, Polynesien und Australien. Aber auch aus Afrika oder Südamerika sind Mumien, Knochen oder ganze Skelette in den hiesigen Museen ausgestellt.

Was hat die Schweiz damit zu tun? 

Studien haben gezeigt, dass Schweizerinnen und Schweizer individuell am Kolonialismus beteiligt waren, indem sie sich bewaffneten, diplomatischen und auch wirtschaftlichen Korps der europäischen Kolonialmächte angeschlossen haben. Das schreibt der Verband der Museen der Schweiz in einem Leitfaden. So legen Forschungen nahe, dass die Schweiz nicht nur wirtschaftlich – durch die Ausrüstung von Schiffen oder durch Investitionen in Ausbeutung und Handel –, sondern auch wissenschaftlich von dieser individuellen Zusammenarbeit profitiert haben soll.

Wie sind die Exponate in die Schweiz gekommen?

Vor allem aus den Bereichen Anthropologie, Archäologie, Botanik, Geologie oder Zoologie aus kolonisierten Ländern ist eine Sammlung zusammengetragen worden. Ein Beispiel: Zwei Schweizer haben in den 1930er-Jahren in Polynesien nach «Objekten» für das Völkerkunde- und Naturhistorische Museum in Basel gesucht, wie die deutsche Wochenzeitung «Zeit» im vergangenen Jahr berichtet hat. So gelangten unter anderem Waffen, Tiere, steinerne Ahnenfiguren, Schmuckstücke, Stoffteile und Knochen in die Schweiz.

Dazu hat es Ende des 19. Jahrhunderts in der Schweiz sogenannte «Völkerschauen» gegeben. Häufig fanden diese in zoologischen Gärten statt. Beispielsweise im Aargau soll es von 1882 bis 1964 rund 80 Völkerschauen gegeben haben, nämlich je 21 in Aarau und Baden sowie je mehrere in Brugg, Frick, Lenzburg, Menziken, Reinach, Rheinfelden, Wettingen, Wohlen und Zofingen. Ab 1928 waren die meisten Völkerschauen mit dem Zirkus Knie unterwegs, wie die Autorin Rea Brändle in ihrem Buch «Wildfremd, hautnah. Zürcher Völkerschauen und ihre Schauplätze» herausfand. Aber auch in Zürich und im Zolli Basel wurden Menschen zur Schau gestellt.

Diese Veranstaltungen galten als äussert lukrativ und als wahre Publikumsmagneten. In Zürich sind 1881 auf dem Weg zu so einer Ausstellung fünf Menschen aus Patagonien gestorben. Deren Überreste wurden zu wissenschaftlichen Zwecken ausgeweidet und skelettiert, einzelne Organe wurden zudem konserviert. Erst 130 Jahre nach ihrem Tod wurden die Toten von Zürich nach Chile zurückgebracht, wie das «SRF» berichtet.

Wo gibt es sterbliche Überreste in der Schweiz?

Eine vollständige Auflistung gibt es aktuell nicht, welches Museum oder welche Sammlung menschliche Überreste aufbewahrt. Daher ist es auch nicht möglich zu bestimmen, welches Museum menschliche Überreste mit kolonialem Kontext in seiner Sammlung hat. Mehrere Anfragen bei Deutschschweizer Museen ergaben, dass das Institut für Evolutionäre Medizin (IEM) in Zürich sowohl «moderne» (Zeitraum bis circa 1970) als auch historische und prähistorische Humanpräparate besitzt – hauptsächlich aus Zürich mit Schweizer Herkunft, wie das Institut auf Anfrage schreibt. Das Museum der Kulturen in Basel (MKB) hat Knochen und Überreste kolonialer Herkunft. Das Antikenmuseum Basel zeigt Mumien aus Ägypten, das Rätisches Museum in Chur und das Bernische Historische Museum haben ebenfalls Exponate menschlichen Ursprungs in ihrer Sammlung. Im Anatomischen Museum Basel werden vor allem Originalpräparate von menschlichen Körperteilen, Organen und Geweben präsentiert, wie es auf ihrer Webseite heisst. Jedoch seien keine aus kolonialer Herkunft, sagt die Leiterin und Professorin Magdalena Müller-Gerbl. Das Historische Museum in Baden hat in der Sammlung menschliche Überreste im Bereich Archäologie und möglicherweise auch bei den katholischen Reliquien. Aus der Neuzeit würden keine menschlichen Überreste im Museum sein. Anfragen an das Kulturmuseum in St.Gallen und das Völkerkundemuseum Zürich sind aktuell noch unbeantwortet.

Wie viele menschliche Überreste gibt es aktuell in der Schweiz? 

Im Gegensatz zu Deutschland wurde bisher keine Umfrage unter Museen und universitären Sammlungen durchgeführt. Auch gibt es hierzulande noch keine umfassende Datenbank, in der menschliche Überreste aus der Kolonialzeit registriert werden können. 2004 wurde das «Swiss Coffin Project» ins Leben gerufen, das den Bestand altägyptischer Sargausstattungen in Schweizer Museen dokumentiert, erforscht und publiziert.

Laut Anfragen liegen mehrere zehntausend Exponate in den Museen. So hat das IEM ungefähr  20'000 Exponate menschlichen Ursprungs in seinem Bestand. Die Zahl umfasst auch nicht vollständige Individuen, sondern auch einzelne Knochen oder Organe. Das Bernische Historische Museum hat 2562 Datensätze «Menschliche oder tierische Überreste» in ihrem Bestand, wie Museumssprecherin Merja Rinderli angibt. Im Museum der Kulturen liegen knapp 500 polynesische Objekte. Vom Antikenmuseum in Basel, dem Anatomischen Museum in Basel und dem Rätischen Museum in Chur sind keine Zahlen bekannt.

Wie gehen Schweizer Museen mit Exponaten aus der Kolonialzeit um?

Erst kürzlich hat das MKB einen beschnitzten Baumstamm an eine indigene Bevölkerungsgruppe in Australien zurückgegeben, der 1940 an das frühere Völkerkundemuseum in Basel vermittelt worden war. Das Museum arbeitet schon seit längerem an der Rückführung menschlicher Überreste mit kolonialem Kontext. «Für viele sind das immer noch Ahnen und die müssen zurückkehren», sagt die Ethnologin Beatrice Voirol gegenüber der «Zeit». Aber auch das Rhätische Museum und das Basler Antikenmuseum sind im Austausch mit den Herkunftsländern der Mumien, die zur Sammlung oder zu einer Sonderausstellung gehören.

Die Grundlage für die Museen bildet die ethischen Richtlinien. Die Umstände, unter denen menschliche Überreste oder andere Kulturgüter aus kolonialen Kontexten Eingang in die Sammlungen fanden, sind sehr unterschiedlich und müssen daher individuell betrachtet werden.

Welche Rolle spielen die Kantone und der Bund?

Kulturpolitik ist in der Schweiz allerdings Sache der Kantone. So steht beispielsweise im Basler Museumsgesetz, dass die Objekte aus den Sammlungen der staatlichen Museen unveräusserlich seien. Ausser es handle sich dabei um sogenannte Restitutionen (siehe Box unten). Dann muss erst die Museumskommission des jeweiligen Hauses zustimmen, dann die Regenz der Universität Basel und anschliessend der Basler Regierungsrat.

Ausserdem hat der Bundesrat eine unabhängige Kommission für historisch belastetes Kulturerbe geschaffen. Seit dem 1. Januar 2024 ist diese Verordnung in Kraft. Damit setzt sie eine am 9. Dezember 2021 von SP-Politiker Jon Pult eingereichte Motion um. In einem nächsten Schritt werden jetzt die Mitglieder bestimmt und in diesem Jahr sollen die Expertinnen und Experten die Arbeit aufnehmen. Dieses Gremium soll beratend zur Seite stehen und in Einzelfällen eine nicht bindende Empfehlung abgeben können. Das Bundesamt für Kultur (BAK) unterstützt zudem in den Jahren 2023 bis 2024 wieder 28 Museen mit Beiträgen von gut 2 Millionen Franken bei der Herkunftsforschung.

veröffentlicht: 24. März 2024 06:48
aktualisiert: 24. März 2024 09:07
Quelle: ArgoviaToday

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