Wie schwer ihm der Entscheid gefallen ist, weiss nur sein nächstes Umfeld. Einfach muss es auch für den 20-fachen Major-Sieger Roger Federer nicht gewesen sein, freiwillig auf die zweite Woche eines Grand-Slam-Turniers zu verzichten. Das Herz dürfte aufs Weitermachen gepocht haben, der Verstand auf die Pause nach den Anstrengungen und vor dem eigentlichen Saisonziel Wimbledon. Wenn sich im Sport der Kopf auf Kosten der Leidenschaft durchsetzt, sorgt das für Kontroversen. Davon ist auch Federer nicht ausgenommen.
«So funktioniert das nicht», meinte Paul McNamee, der frühere Spitzenspieler und einstige Direktor des Australian Open. «Man kann sich nicht einfach herauspicken, welche Matches man bestreiten will und welche nicht.» Patrick McEnroe, der als Experte für ESPN arbeitet, führte aus: «Es entwertet das Major. Jemand profitiert von dem Forfait und hat dadurch einen Vorteil.» Er verstehe den Verzicht, möge ihn aber nicht.
Erreichtes Ziel, beschränkte Aussichten
Das Verständnis des Amerikaners rührt daher, dass es ein intelligentes Forfait ist. Wenn er alle Kollateralschäden seines Entscheids ausklammert – was er nicht zum ersten Mal in seiner Karriere getan hat - konnte Federer eigentlich nur zum Schluss kommen, auf die restlichen möglichen Partien in Paris zu verzichten. Denn der Match am späten Samstagabend gegen den Deutschen Dominik Koepfer hat ihm zwei entscheidende Informationen geliefert: Er hat die nötige Wettkampf-Härte für höhere Aufgaben. Und: Er ist nicht genug stark und vor allem konstant, um mit den Allerbesten auf Sand mitzuhalten.
Die Chance, in Paris zum zweiten Mal nach 2009 zu triumphieren, wog das Risiko, sich körperlich zu sehr zu verausgaben, nicht auf. «Ich muss mich daran erinnern, was mein Saisonziel ist», hatte Federer unmittelbar nach seinem Match gegen Koepfer gesagt. Das French Open sollte als Vorbereitung dienen für die Rasensaison. Daraus hat der Schweizer nie ein Geheimnis gemacht. Angesichts der Resultate in diesem Jahr vor Paris hatte er aber wohl erwartet, dass er gar nicht vor dem Entscheid, weiterzuspielen oder nicht, stehen werde.
Darf man das?
Es war ein Luxusproblem, dem sich Federer am Sonntag nach drei gewonnenen Matches und nahezu acht Stunden auf dem Pariser Sand stellen musste. Für die französische Sportzeitung «L'Equipe» war das Forfait logisch. Mehr amüsiert als verärgert schrieb sie am Montag, Federer habe Roland Garros gebraucht, um Halle vorzubereiten. Und das Forfait habe auch sein Gutes. Es beweise, dass der Schweizer wirklich an einen erfolgreichen Lauf in Wimbledon glaube.
In Roland Garros war Federer eine Attraktion, kein Titelkandidat. Die Organisatoren feuerten nicht auf den bald 40-Jährigen. Auch wenn ein Viertelfinal gegen Novak Djokovic am Mittwoch ein spezielles Ereignis gewesen wäre, kann das Turnier in der entscheidenden Phase ohne den Baselbieter leben, der in der kommenden Woche in Halle seine Rasensaison beginnt. «Wir haben uns alle über seine Rückkehr nach Paris gefreut, wo er drei Spiele auf höchsten Niveau bestritten hat», liess sich Turnierdirektor Guy Forget freundlich zitieren.
Es ist mehr eine Prinzipienfrage, die spaltet. Darf man tun, was Federer getan hat? Die Antwort lautet nein. Darf Federer tun, was er getan hat? Hier lautet die Antwort eher ja. Für Chris Evert, die Rekordsiegerin von Roland Garros und Eurosport-Expertin, ist der Fall klar: «Roger Federer hat sich das Recht verdient, im Tennis zu tun, was immer er will.»
Das Risiko, das Federer nun viele Nachahmer findet und das Ganze zu einem Präjudiz wird, ist gering. Erst wenn sich reihenweise bald 40-jährige, 20-fache Grand-Slam-Sieger aus wichtigen Turnieren zwecks Schonung zurückziehen, würde Handlungsbedarf bestehen. Wahrscheinlicher ist, das Federer wieder einmal richtig liegt. Die Antwort folgt in den nächsten Wochen. Wimbledon beginnt am 28. Juni.