Von Unerfahrenheit oder gar technischer Unbeholfenheit ist überhaupt nichts erkennbar - im Gegenteil. Und trotzdem hat «Momentum» in seiner emotionalen Aufrichtigkeit etwas Frisches, Unbefangenes, Bewegendes. Mit Edwin Charmillot betritt ein neues Talent die Schweizer Filmszene, das alle Aufmerksamkeit verdient hat.
«Momentum» ist ein zurückhaltender Film, nicht nur was seine Spielzeit von 64 Minuten betrifft. Erzählt wird von der 16-jährigen Emma (Sarah Bramms), die nach einem tragischen Unglück vor einiger Zeit versucht, in ihr Leben und ihre Jugend zurückzufinden.
Oft sehen wir sie alleine, wie sie mit ihrer rätselhaften Traurigkeit in ihrem Bett liegt, oder wie sie später zusammen mit ihrer besten Freundin (Louna Drouin) durch die Landschaft um ihr jurassisches Dorf streift. Als der etwas ältere Tom (Stéphane Monpetit) wieder im Dorf auftaucht, dessen Leben wie ihres von dem Unfall verändert wurde, beginnt sich eine sanfte Liebesgeschichte anzubahnen.
Aufs Wesentliche gekürzt
Sehr viel passiert nicht in Charmillots Film, die Handlung ist in wenigen Sätzen erzählt. Was «Momentum» auszeichnet, ist sein Gespür für die eigenen Rhythmen seiner Figuren: ihre Trauer und Kontemplation, der anspruchsfreien, tröstenden Freundschaft und der vorsichtigen Verliebtheit.
Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA erzählt Charmillot, der Film sei ursprünglich doppelt so lang gewesen; er habe dann aber im Schnittprozess nur das behalten, was «unbedingt nötig» war. «Momentum» hat deshalb trotz seiner Langsamkeit und relativen Ereignislosigkeit etwas Dringliches, das im Schweizer Kino nur selten zu sehen ist.
Es handelt sich um eine solche Dringlichkeit und auch Wahrhaftigkeit, dass man hinter der Geschichte eine autobiografische Erfahrung vermutet, was aber nicht der Fall ist. «Das Drehbuch entstand aus dem Wunsch, für die beiden Schauspieler, die ich für ein anderes, leider gescheitertes Projekt gecastet hatte, ein neues Szenario zu finden», sagt Charmillot. «Es sollte hier in der Nähe spielen, mit viel Natur, und ohne viel Geld machbar sein. Vieles bleibt nur angedeutet, aber im Zentrum stehen diese zwei Menschen, die sich in ihrem Schmerz und ihrer Trauer finden.»
Der Selbermacher
Schon als Zehnjähriger begann sich Charmillot für das Kino zu interessieren, schaute unzählige Filme. Bald fing er an, kleine Animationsfilme mit der Stop-Motion-Technik zu erstellen, später mit Freunden auch reguläre Kurzfilme zu drehen. Dass es im Jura kaum eine Filmszene gibt, hatte ihn nie davon abgehalten, sein Handwerk mithilfe des Internets zu erlernen, bei Freunden und Familien um Unterstützung zu bitten, seinen cineastischen Vorbildern nachzueifern.
Er bewundert den amerikanischen Filmpoeten Terrence Malick, dessen Einfluss in den ruhigen, landschaftlichen Rhythmen von «Momentum» spürbar ist, und er hat eine Vorliebe für das asiatische Filmschaffen: Für Edward Yang, Wong Kar-wai sowie für den jungen chinesischen Regisseur Bi Gan - ein anderer Autodidakt, der mit «Long Day's Journey into Night» vor ein paar Jahren für Furore sorgte.
Charmillots erster richtiger Film «Icar» ist 2015 in Delémont entstanden und hatte lokal bereits einen gewissen Erfolg. Er brachte einen Nachwuchspreis ein und wurde in einigen Kinos der Region gezeigt. Schon bei diesem, noch unter einer Stunde dauernden Film besetzte er alle wichtige Positionen selber: Von Regie und Produktion über Ton und Schnitt bis zu den Kostümen - und der Hauptrolle.
In «Momentum» steht er jetzt zwar nicht mehr selber vor der Kamera - «um die volle Kontrolle über die Inszenierung zu haben» - aber von einer diversifizierten Arbeitsteilung ist der Film weit entfernt. Umso erstaunlicher dann die Tatsache, dass man diesen Umstand dem für bloss 30’000 Franken (mehrheitlich aus privater Förderung) gedrehten Film fast in keinem Moment anmerkt. Amateurhaft ist daran jedenfalls gar nichts - wofür auch die Einladung ans ZFF spricht.
Von diesem erhofft sich Charmillot nebst Zuspruch vom Publikum vor allem auch Aufmerksamkeit von der Filmwelt: von Verleihern, die den Film in der Schweiz und vielleicht auch im Ausland ins Kino bringen wollen, sowie Kontakte zu Produzenten auf der Suche nach neuen Talenten.
Ideen für neue Filme hat er schon verschiedene, etwa in einer asiatischen Stadt einen Film noir zu drehen, wie auch von Zuhause ausziehen zu können und von seiner Arbeit als Filmemacher und Fotograf leben zu können. Man hofft, dass es ihm gelingt, und kann durchaus zuversichtlich sein. «Momentum» verspricht jedenfalls so einiges.
*Dieser Text von Dominic Schmid, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.