Es ist ein schwüler Nachmittag. Über der Terra di Pedemonte hängen graue Wolken, vor der Kirche kläfft ein Hund, weiter unten im Dorf mäht ein Mann den Rasen.
Aus den offenen hohen Fenstern der Accademia Teatro Dimitri erklingt Klaviermusik, ein Schlagzeug gibt den sich verrenkenden Studenten den Takt vor. «Danza» steht auf dem Schild neben der Türe des unscheinbaren Gebäudes.
Ein halbes Jahrhundert ist es her, seit der vor fünf Jahren verstorbene Clown Dimitri im Keller unter dem heutigen Innenhof ein Theater mit rund 100 Plätzen gründete. «Ich glaube, das war die glücklichste Zeit meines Vaters. Hier unten konnte er unabhängig schalten und walten», sagt sein Sohn David Dimitri, der seit 2016 das Teatro leitet und der Stiftung Dimitri vorsteht, im Gespräch mit Keystone-SDA.
Mit zunehmender Berühmtheit des Clowns wuchs auch der Publikumsandrang im kleinen Theater in Verscio. Zehn Jahre nach der Gründung entstand der heutige Theaterraum - ein Neubau - der doppelt so viele Zuschauer aufnehmen kann.
Ein Ort der Stabilität in unsicheren Zeiten
50 Jahre sind seit der Gründung des Teatro Dimitri vergangen. «Theoretisch könnte man sagen: ‹Es waren schöne 50 Jahre› und sich neuen Projekten zuwenden», sagt David Dimitri beim Gespräch auf der «Piazza Grande» des Teatro. «Aber das hier ist ein so einzigartiger Ort, dass es für mich unvorstellbar wäre, mich zurückzuziehen.»
Dimitri lässt seinen Blick über den Innenhof schweifen. «Schauen Sie sich diese Wände an: Die Farbe blättert ab, ja, aber sie sind doch wunderschön, sie leben!» Er hätte Angst, dass eine «externe» Theaterleitung hier alles neu streichen und verändern würde. «Dabei sind das doch Wände, die sprechen.»
Die Zeit nach dem Tod seines Vaters sei für die Geschwister sehr schwierig gewesen, sagt David Dimitri. Vieles sei unsicher geworden. Jetzt, fünf Jahre später, habe sich ein neues Gleichgewicht eingestellt. «Der Ort lebt wieder. Es ist ein wenig, als wäre mein Vater hier.»
Deshalb wünsche er sich für die Zukunft, dass die Familie das Teatro, das sich einer nonverbalen, burlesken Tradition verpflichtet hat, noch viele Jahre gemeinsam führe. Das vereinfache auch vieles, zum Beispiel könnten die Geschwister sich in der Leitung abwechseln, wenn einer von ihnen auf Tournee gehe.
Lebendiges Theater, keine Gedenkstätte
Auch den Zuschauern sei daran gelegen, dass die Seele des Theaters erhalten bleibt, zeigt sich Dimitri überzeugt - gerade in solch unsicheren Zeiten wie diesen. Im vergangenen Sommer hätte er bei vielen Besuchern eine Art «Aufatmen» gespürt, als sie wieder in eine Vorstellung kommen konnten und sahen, dass es noch genau so war wie früher. «Das war extrem schön für uns.»
Trotzdem solle das Teatro nicht zu einem Denkmal für den 2016 verstorbenen Clown werden, hält sein Sohn fest. «Wir wollen den Geist Dimitris erhalten, ohne zu einer Gedenkstätte zu werden.»
So übermütig der feingliedrige Seiltänzer vor der Kamera in Rollen schlüpft und den Clown mimt, so sorgfältig wägt er im Gespräch seine Worte ab.
Trotz anhaltender Pandemie und nur einer Zweidrittel-Belegung sei es ein sehr guter Sommer für das Theater gewesen, hält Dimitri fest. In der kommenden Saison setzt er auf Zertifikatspflicht: «Die Menschen sollen irgendwann wieder ohne Maske ins Theater können.»
Die Zukunft für kleinere Bühnen wie seine sei so oder so nicht leicht, ob mit oder ohne Corona, hält Dimitri fest. «Es ist für uns in jedem Fall schwierig, ohne finanzielle Unterstützung über die Runden zu kommen.» Trotzdem stehe das Teatro auf «sehr soliden Beinen».
Ein Haus für Kinder
Im kommenden Dezember wird denn auch ein seit langer Zeit brach liegendes Haus zum Leben erweckt und sanft renoviert: Die vierstöckige «Casa del Clown» soll ab dem nächsten Jahr eine Art «Studieninsel» für experimentierfreudige Schulklassen, Kinder und Künstler aus aller Welt werden. «Mein Vater träumte bereits vor 40 Jahren davon, in diesem Haus Kinder zu empfangen und ihnen Raum für Gestaltung zu geben», erzählt Dimitri.
Und genauso, wie sich das Theater im Laufe der ersten Jahrzehnte von einem privaten Unternehmen zu einer Institution entwickelt hat, soll es sich auch weiter wandeln dürfen, hält Dimitri fest. «Dieser Ort soll ein breit gefächertes Theater ‹en miniature› bleiben.»
Das Nebeneinander verschiedenster Inhalte habe dem Teatro von Beginn weg seinen Charakter gegeben, erzählt Dimitri. In den ersten Jahren lasen hier Max Frisch und Günter Grass, die Theatergruppe Mummenschanz, der Komiker Emil und die Komödiantin Gardi Hutter absolvierten im kleinen Theater im Sopraceneri ihre allerersten Bühnenauftritte.
Diese breitgefächerte «Belebung» des Teatro ist David Dimitri wichtig. «Am schönsten ist es bei uns am Abend, wenn im Innenhof Gäste und Künstler zusammen essen und bei einem Glas Merlot oder einem guten Grappa diskutieren», erzählt der Artist mit leuchtenden Augen.
Er träumt davon, dass noch mehr junge Künstler ihre Musik ins Theater tragen und vielleicht auch einmal gemeinsam Tessiner Lieder singen würden. Bei aller Experimentierfreudigkeit legt David Dimitri aber Wert auf ein Programm mit einem gewissen Tiefgang. «Wenn der Geist des ursprünglichen Teatro bleibt, kann man hier alles machen.»