Ohne die «Poldis» wäre normaler Unterricht in vielen Schulen heute kaum mehr möglich. Die Personen ohne Lehrdiplom überbrücken auch in diesem Schuljahr vielerorts den Mangel an Lehrpersonen. Entspannung ist nicht in Sicht. Bis zu 10'000 Lehrpersonen dürften 2031 laut Bundesamt für Statistik fehlen.
Yannik Andrea Bless versteht den Kampf um Lehrpersonen nicht. Personen ohne pädagogische Ausbildung dürften eine grosse Klasse führen und würden dafür bezahlt, sagt er zur Today-Redaktion. «Eltern, die keine Entschädigung dafür erhalten und in unserer Bildungskrise das System entlasten würden, dürfen aber kaum ihre Kinder unterrichten.» Dies sei ein Widerspruch. Zu Unrecht herrschten in den Kantonen grosse Auflagen für Homeschooling.
Bless ist Schulleiter im Kanton Zürich und betreibt daneben die Swiss Online School. Auf der Website wird diese als Alternative zur Volksschule beschrieben. «Sie deckt den Lehrplan 21 ab und bietet zurzeit ab dem Kindergarten alle Klassen an.»
«Eltern störten sich an unausgebildeten Lehrern»
Vor drei Jahren gründete Yannik Bless mit Geschäftspartnerin Nicole Schubiger die komplett digitale Schule. Zielgruppe sind Kinder und Jugendliche, die nicht die öffentliche Schule besuchen und stattdessen von ihren Eltern unterrichtet werden. «Als wir die Schule gründeten, wurden wir von Anfragen überrollt», sagt Bless. Zurzeit besuchten rund 300 Schülerinnen und Schüler die Swiss Online School, die pro Jahr 4000 Franken koste.
Vor allem Mittel- und Oberstufenschüler nutzen das Angebot. Am häufigsten haben die Eltern mit ihren Kindern in der Volksschule schlechte Erfahrungen gemacht. «Es störte sie zum Beispiel, dass zum Teil unausgebildete Lehrer 25 Kinder betreuen mussten», sagt Yannik Bless. Sie seien deshalb der Meinung gewesen, dies ebenso gut zu können.
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Etwa die Hälfte der Eltern hat die Rolle der Lehrperson aber auch übernommen, weil ihr Kind wegen Verhaltensauffälligkeiten in eine Sonderschule geschickt worden wäre. «Da der soziale Druck wegfällt, machen diese Kinder im Homeschooling in der Jahresleistung einen riesigen Schritt.» In der Mittelstufe beginne der Notendruck, sagt Bless. Zugleich verglichen sich die Kinder sozial. «Kommt die Pubertät noch dazu, wird es vielen Kindern in den öffentlichen Schulen zu viel.»
«Viele Eltern nehmen Bussen in Kauf»
Laut Bless handelt es sich bei den Eltern der Homeschooling-Schülerinnen und -schüler oft um Akademikerinnen und Akademiker. «Im Gegensatz zu den Laienlehrpersonen unterrichten die Eltern zudem oft nur ein Kind aufs Mal.»
In vielen Kantonen herrschen unterschiedlich strenge Auflagen für Homeschooling. Im Kanton Zürich können Eltern ohne Lehrerausbildung maximal ein Jahr unterrichten. Die Kantone der Zentralschweiz kennen unterschiedlich strenge Regeln. Der Kanton Zug etwa bewilligt Privatunterricht nur, wenn Eltern «besondere Gründe» geltend machen können. Der Kanton St.Gallen bewilligt Homeschooling unter anderem nur, wenn die Erziehung zur Gemeinschaftsfähigkeit sichergestellt ist. Im Kanton Uri etwa ist Privatunterricht bis jetzt nicht möglich.
Die strengen Voraussetzungen und bürokratische Hürden schrecken manche Eltern nicht davon ab, ihr Kind selbst zu unterrichten. «Viele Eltern nehmen Bussen in Kauf oder ziehen in einen Kanton, der ihnen weniger Probleme macht», sagt Yannik Bless.
Steigender Trend
Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren bestätigt den Trend. Rund 3765 Kinder und Jugendliche werden aktuell zu Hause unterrichtet, vor allem auf der Primarstufe. Die Zahl der Kinder im Homeschooling ist in den letzten Jahren gestiegen.
Nachteile haben die Homeschooling-Schüler laut Yannik Bless nicht. «Alle unsere Schülerinnen und Schüler fanden nach der dritten Sek sofort eine Lehrstelle.» Hoch sei auch die Erfolgsquote bei denjenigen, welche die Gymiprüfung abgelegt hätten. Ihm als Pädagoge widerstrebe, dass die Kantone Innovation trotz Lehrermangel nicht in Betracht zögen. «In der aktuellen Bildungskrise müssen die Kantone flexibler und die Regeln für Homeschooling gelockert werden.»
«Möglichkeiten für Zusammensein fehlen»
Gelockerte Homeschooling-Bedingungen finden beim Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) keinen Anklang. Nach wie vor gebe es für einzelne Kinder möglicherweise gute Gründe, weshalb «Home-Schooling» in Ausnahmefällen und für eine limitierte Zeit eine bessere Möglichkeit als die Volksschule sein könne, sagt LCH-Präsidentin Dagmar Rösler. Dies sei zum Beispiel der Fall, wenn ein Kind vorübergehend sehr spezielle Rahmenbedingungen brauche. Als Normalfall aber sehen der LCH vor allem die Nachteile. «Es fehlen Möglichkeiten für das Zusammensein, das gemeinsame Lernen und den Austausch mit Kindern ausserhalb der Familie.»
Auch angesichts des Lehrermangels rät Rösler davon ab, Eltern und Menschen, die ohne Diplom in der Schule arbeiteten, gegeneinander auszuspielen. «Fakt ist, dass wir uns in einer Notlage befinden, welche sich hoffentlich bald wieder entspannen wird.»
Im Kampf gegen den Lehrermangel sähe der Kanton Luzern Homeschooling mit weniger Hürden ohnehin nur als Tropfen auf den heissen Stein. Das Interesse an Privatunterricht sei im Volumen gering, sagt Armin Hartmann, Bildungs- und Kulturdirektor des Kantons Luzern. Nehme eine Familie zum Beispiel ihre drei Kinder aus der Volksschule, bedeute dies lediglich ein Kind weniger in drei Klassen. «Dadurch lässt sich keine Lehrperson einsparen.»