Eines vorneweg: Die Schweiz hat gegen Italien nicht verloren, weil sich Granit Xhaka und Manuel Akanji vor dem Spiel die Haare hatten blond färben lassen. Wer so argumentiert, unterschätzt die taktische, spielerische und physische Komplexität des modernen Fussballs. Er zeigt wenig Respekt gegenüber den Qualitäten der Italiener, wenn er den Ursprung des Schweizer Debakels im «Haar-Gate» ortet.
Eine seriöse Analyse dieses so schmerzhaften 0:3 von Rom muss tiefer gehen als bloss bis zum Haarschnitt. Richtige Problemzonen gibt es ohnehin gerade genug rund um das Schweizer Nationalteam vor dem abschliessenden Vorrunden-Match gegen die Türkei am Sonntag.nm
Der Coach
Vladimir Petkovic wirkte nach dem Spiel irritierend ratlos. Er sprach davon, wie sein Team «nicht bei 100 Prozent» war. Von vielen Fehlern, wie sie hätten geschehen müssen, «weil es sonst nicht ein solches Resultat hätte geben können». In den nächsten Tagen ist Petkovic so sehr gefordert wie noch nie in seiner siebenjährigen Amtszeit. In Russland hat er es nicht geschafft, die Emotionen rund um das Spiel gegen Serbien in eine insgesamt befriedigende Kampagne zu kanalisieren. Nun muss er das Team innerhalb von drei Tagen nicht nur aufrichten, sondern auch das Feuer entfachen, das bisher so sehr gefehlt hat.
Petkovic hat seinem Team eine spielerische Struktur gegeben, für die es weit herum gelobt wird. Die emotionale Komponente ist an einem Turnier aber ebenso wichtig. Dass die Schweizer Auswahl am Tag X über sich hinauswachsen kann, hat sie an einer Endrunde erst einmal gezeigt: Im WM-Spiel 2018 gegen Serbien. Die Vermutung liegt nahe, dass in diesem Spiel Xhaka, Shaqiri & Co. aus eigenem Antrieb beseelt waren - und nicht aufgrund der Ansprachen von Petkovic.
Der Captain
Granit Xhaka ist der Anführer dieser Mannschaft. Ohne Wenn und Aber. Selbst Torhüter Yann Sommer, selber ein Führungsspieler, sagt: «Granit ist unser Herz auf dem Platz.» An der EM hat Xhaka bislang nur vor und nach den Spielen als Leader gehandelt. Er formuliert forsch die Ziele und spricht nach einer Niederlage unverschlüsselt die Probleme an. «Wir hatten nicht genug Spieler auf dem Platz, die den Ball wollten. Wer den Ball nicht will, sollte sich überlegen, ob er auf dem Platz stehen sollte», war so eine Aussage am Mittwoch.
Xhaka darf sich selbst von diesem Vorwurf ausnehmen. Doch auch er hat in den 180 EM-Minuten auf dem Platz keinen Spuren hinterlassen. Er konnte das Team nicht vor Passivität schützen gegen Wales, er konnte sich gegen Italien nicht als Anführer anbieten, an dem sich die anderen hätten aufrichten können. Xhaka ist an dieser EM bis jetzt kein Faktor - daran ändern auch gute Zweikampfwerte und Passquote gegen Italien nichts.
Der Star
Xherdan Shaqiri wird zum Problem für dieses Team und ihren Trainer. Sein Formstand ist so erbärmlich, dass er eigentlich nicht mehr zum Stamm gehören dürfte. Aber hat Petkovic den Mut, den Star auf die Bank zu setzen? Die Qualifikation für die EM hat die Mannschaft ohne Shaqiri geschafft. Darauf könnte der Trainer verweisen.
Die Alternativen zu Shaqiri sind überschaubar. Führen ohne Shaqiri tatsächlich die möglichen Statthalter Ruben Vargas, Admir Mehmedi oder Christian Fassnacht die Schweiz noch in die Achtelfinals? Zweifel sind angebracht, doch mit der Verbannung Shaqiris aus der Startformation könnte Petkovic einen neuen Reiz setzen, den seine Mannschaft nun so dringend nötig hat.
Die Mitläufer
Fabian Schär, Manuel Akanji, Ricardo Rodriguez und Haris Seferovic. Sie alle sind im Nationalteam seit Jahren gesetzt. Doch an der EM bleiben auch sie unter ihren Möglichkeiten. Was für Shaqiri gilt, ist auch für sie nicht falsch: Sie sind weit von einer ansprechenden Form entfernt. Gerade bei Schär und Rodriguez hat das ähnliche Gründe wie bei Shaqiri. Wer im Klub in den letzten Monaten kaum gespielt hat, kann nicht erwarten, an einer EM von null auf hundert im Rhythmus zu sein.
Seferovic vergab gegen Wales in der ersten Halbzeit drei gute Chancen - und verzweifelte daran. Gegen Italien konnte er in einem unterlegenen Ensemble als Mittelstürmer nicht brillieren. Aber seine resignierende Körpersprache verriet alles, nur nicht, was er in diesem Frühjahr im Hinblick auf die EM auch schon gesagt hat: «Mit uns ist zu rechnen.»
Die Leidenschaft
Auch spielerisch ansprechende Ansätze im Spiel gegen Wales können nach dem 0:3 gegen Italien nicht kaschieren, dass die Schweiz an der EM in gewisser Weise nahtlos an den WM-Achtelfinal gegen Schweden angeknüpft hat. Sie tritt ohne Feuer und Leidenschaft auf. Petkovic hat dies nach dem Wales-Spiel in Bezug auf vergebene Chancen so formuliert. «Es fehlt der unbedingte Wille, das Tor zu erzielen.»
Gegen Italien fehlte dieser Wille auch in der Rückwärtsbewegung. Beim 0:1 verfolgte Remo Freuler den späteren Torschützen Manuel Locatelli nur bis zur Strafraumgrenze, dann brach er seinen Lauf ab. Es war ein Symbolbild für ein Spiel, in dem jeder Schweizer im Durchschnitt einen halben Kilometer weniger lief als sein Gegenspieler. Und dieses Bild zeigt ausgerechnet Freuler, den Svizzero von Atalanta Bergamo, der so lange von diesem Spiel geträumt hatte.