Künstliche Befruchtung

«Mama, wie bin ich entstanden?»

· Online seit 04.07.2023, 05:49 Uhr
In der aktuellen Schweizer Studie «StART Familie» zu assistierter Reproduktion untersucht Doktorandin und Psychologin Julia Schmid die Langzeitfolgen für Familien, die ein Kind auf natürlichem Wege und eines mittels künstlicher Befruchtung gezeugt haben. Teil dieser Studie ist auch Familie Märki aus der Region.
Anzeige

Familie Märki*, das sind Tabea* und Simon*. Sie haben zwei gemeinsame Kinder: Eines ist auf  «natürlichem» Wege entstanden – das andere durch künstliche Befruchtung – durch In-Vitro-Fertilisation (IFV).

Keine Kinder für uns?

Der Weg zur Elternschaft war alles andere als leicht. Tabea und Simon versuchten mehrere Monate lang, Nachwuchs zu bekommen. Als das nicht klappen wollte, liess sich Tabea durchchecken. Es stellte sich heraus: Sie hat Endometriose. Diese krankhafte Wucherung der Gebärmutterschleimhaut ausserhalb der Gebärmutterhöhle verringert die Fruchtbarkeit teilweise um über 50 Prozent. «Für uns war danach klar, dass es schwierig werden würde», so Tabea. Trotz widriger Umstände wurden die Märkis Eltern einer Tochter. Doch damit war das Thema Kinderwunsch noch nicht ganz abgeschlossen.

Noch bevor sich das Paar richtig an seine neue Rolle gewöhnen konnte, stellte sich die Frage: Wollen wir noch ein zweites Kind? «Als unsere Tochter ein Jahr alt war, wussten wir, wir sollten eigentlich bereits wieder ein Kind zeugen, damit die Endometriose nicht wieder aktiv werden kann. Aber ich war überhaupt noch nicht bereit für ein zweites Kind.» Tabea war klar, dass die Chancen für eine erneute Schwangerschaft nicht optimal sind.

Behandlung kostete viel Kraft

Was folgte, waren acht lange Jahre voller Hormonbehandlungen und Eizellen-Einfrierungen. Ein Auf und Ab, das Tabea körperlich und mental viel Kraft und Geduld kostete – und das Paar oft an seine Grenzen brachte. Nicht selten kämpfte Tabea auch mit Schuldgefühlen. «Ich dachte Dinge wie: ‹Wegen mir können wir kein zweites Kind haben›. Ich hatte das Gefühl, versagt zu haben. Dass mein Körper versagt hat. Natürlich sah mein Mann das anders – aber die Stimme im Hinterkopf blieb.» Als das Paar bereits aufgeben wollte, klappte es schliesslich dann doch noch mit der künstlichen Befruchtung.

Für Tabea ist das zweite Kind ein riesiges Geschenk, für das sie und ihr Mann Simon täglich dankbar sind. «Wir schätzen unser Glück wirklich unglaublich. Irgendwann ist es dann auch egal, was es gekostet hat. Und es ist auch ein bisschen vergessen, was das alles mit uns gemacht hat.»

Studie soll Langzeitfolgen für Familien aufzeigen

Familie Märki ist Teil der UZH-Studie zu künstlicher Befruchtung. Und zwar weil Tabea per Zufall einen Aufruf in der Zeitung gelesen hat: «Ich habe gedacht: ‹Wir haben das erlebt, vielleicht hilft es ja anderen Familien, vielleicht können wir etwas beitragen›. Wir wollten anderen helfen.»

Anlass zur Studie war die mangelnde wissenschaftliche Grundlage, wie Schmid erklärt: «Wir haben gesehen, dass es zwar Studien gibt, diese sind allerdings widersprüchlich in ihren Ergebnissen und es wurde schlichtweg noch zu wenig geforscht, um klar Rückschlüsse ziehen zu können. Auch der Zusammenhang zwischen psychologischen und biologischen Variablen im Rahmen der assistierten Reproduktion ist noch nicht ausreichend untersucht worden.»

Eine künstliche Befruchtung ist nicht nur physisch, sondern auch psychisch anstrengend für die Beteiligten. «Einerseits ist die Infertilität, also die Unfruchtbarkeit, sehr belastend für die betroffenen Paare, beispielsweise weil die potenzielle Elternschaft infrage gestellt wird. Aber auch die Anwendung der assistierten Reproduktionstechniken führt zu grossem Stress. Paare, die infertil sind, aber keine Behandlung machen, sind weniger Stress ausgesetzt als solche mit der gleichen Ausgangslage, welche sich für eine Behandlung entscheiden», erklärt Schmid.

Grosses Stigma sorgt für Stress

Grund dafür sei nicht zuletzt auch die immer noch existierende gesellschaftliche Stigmatisierung. Die künstliche Befruchtung ist in der breiten Gesellschaft noch nicht wirklich akzeptiert. Das zeigt sich auch bei den Kosten und deren Übernahme. «Die Kosten einer solchen Behandlung sind sehr hoch und werden in vielen Ländern – so auch in der Schweiz – nicht von der Krankenkasse übernommen.» Die ganzen Eingriffe, Untersuchungen und Hormonbehandlungen, die mit einer künstlichen Befruchtung einhergehen, und das ständige Auf und Ab von Hoffnung und Enttäuschung seien ebenfalls nicht zu unterschätzen, sagt Schmid.

Wenn das Kind da ist, kommt die Erleichterung

Der Stress begleitet das Paar oder die Familie oft die ganze Schwangerschaft lang. Erst wenn alles gut gegangen ist, kommt die Erleichterung, sagt Schmid. «Die Geburt des Kindes, das durch die künstliche Befruchtung entstanden ist, führt zu einem Abfall des Stresses.»

Auch die Unterschiede zwischen Familien, die ihr Kind mittels assistierter Reproduktionstechnik empfangen haben und solchen, die durch natürliche Reproduktion Eltern wurden, sollen gemäss der aktuellen Forschung nach Geburt des Kindes stark abnehmen und später kaum mehr spürbar sein, so die Psychologin.

Ob die Belastung der künstlichen Befruchtung allerdings tatsächlich keinen Einfluss auf das Leben betroffener Familien hat oder der erlebte Stress vielleicht lediglich verdrängt wird, soll die laufende Studie unter anderem durch psychologische Fragebögen und die Analyse von Speichel- und Fingernagelproben herausfinden.

*Namen der Redaktion bekannt und aus Datenschutzgründen geändert

veröffentlicht: 4. Juli 2023 05:49
aktualisiert: 4. Juli 2023 05:49
Quelle: ArgoviaToday

Anzeige
Anzeige
argoviatoday@chmedia.ch