Gleichzeitig sind die progressiven Bewegungen «MeToo» und «Black Lives Matter» in New York gegenwärtiger als in den meisten anderen Regionen der USA. Der Dienstag wird deshalb zur Richtungsentscheidung zwischen moderatem und progressiven Kräften, in der sich die Debatten der US-Gegenwart spiegeln: Dann bestimmt die Weltstadt bei den Vorwahlen die Spitzenkandidaten der Republikaner und Demokraten - wobei das Ergebnis in der demokratischen Hochburg als Vorentscheidung für die eigentliche Wahl um die Nachfolge von Bill de Blasio im November gesehen wird.
Die Nachrichten, die New York schockierten, kamen Mitte Mai: Mehr als 500 Menschen wurden bis zu diesem Zeitpunkt in 2021 Opfer von Schusswaffen - so viele wie in zehn Jahren nicht. Auch andere Verbrechen sind seit Beginn der Pandemie sprunghaft angestiegen. Die Gewalt machte nicht einmal vor dem Herz Manhattans, dem Times Square, halt. Dort wurde vor wenigen Wochen sogar ein Kleinkind von Schüssen getroffen.
Es sind Zustände, die sich die Behörden vor eineinhalb Jahren nicht hätten vorstellen können. Die Kriminalitätsrate hatte damals ein historisches Tief erreicht - doch dann kam die Pandemie, der Lockdown, Tausende Restaurants und Geschäfte schlossen für immer. In New Yorker Problemvierteln unter anderem in Brooklyn wurde aus einer stets angespannten Lage eine eskalierende.
Experten erwarten nicht, dass sich der Trend in naher Zukunft wieder umkehrt, auch wenn New York wegen einer erfolgreichen Impf-Kampagne jüngst alle Corona-Beschränkungen aufgehoben hat. Und zu den steigenden Verbrechen kommen fehlende Einnahmen vor allem auch aus dem Tourismus, der noch immer weitgehend lahmliegt. Das drückt zusätzlich aufs Budget. New York City ist ziemlich pleite.
«Niemand kommt nach New York mit seinem Multi-Milliarden- Tourismussektor, wenn dreijährige Kinder am Times Square erschossen werden», sagt Eric Adams energisch. Der 60-Jährige ist Ex-Polizist und Brooklyner Stadtteil-Präsident und steht in den - als unzuverlässig geltenden - Umfragen im Moment als aussichtsreichster demokratischer Kandidat dar. Er und Geschäftsmann Andrew Yang vertreten ein Image, die öffentliche Sicherheit verbessern zu können und New York damit auch zu wirtschaftlicher Blüte zurückzuführen.
Ihnen gegenüber stehen linke Kandidaten, deren Kampagnen von den Idealen der Anti-Rassismus und Gleichberechtigungsbewegung getrieben sind. Besonders hervorgetan hatte sich dort die Bürgerrechtsanwältin Maya Wiley, die auf einen radikalen Neuanfang nach der Krise setzt und sich deutlich gegen die freundliche Linie gegenüber der Polizei richtet. Das riesige NYPD-Budget von mehr als fünf Milliarden Dollar will sie um eine Milliarde kürzen - in Anlehnung an die «Black Lives Matter»-Bewegung, die nach der brutalen Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weissen Polizisten forderte, den Cops die Mittel zu entziehen.
«Wir können keine Sicherheit auf Kosten von Gerechtigkeit haben», sagt Wiley, die kürzlich öffentlichkeitswirksam von der einflussreichen linken Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez unterstützt wurde. Ihre Position steht den Plänen der «Recht und Ordnung»-Demokraten Adams und Yang diametral gegenüber. Dazwischen gibt es eine Reihe weiterer moderater Kandidaten mit guten Chancen, allen voran die ehemalige Beauftragte für die öffentliche Reinigung der Stadt, Kathryn Garcia.
Doch in welche Richtung die Weltstadt demnächst geht, wird auch nach der Wahl am Dienstag möglicherweise für Tage unklar bleiben. Durch ein kompliziertes neues Stimmsystem, bei dem jeder Wähler bis zu fünf Lieblingskandidaten der Reihenfolge nach bestimmen kann, könnten Endergebnisse nach Medienangaben mindestens eine Woche auf sich warten lassen. Zwar soll recht schnell bekannt werden, welche Kandidaten die meisten Erststimmen bekommen haben. Das heisst wegen des Gewichts möglicher Nennungen für Platz zwei allerdings noch nicht, dass diese Person auch gewonnen hat. New York City lässt sich Zeit mit seiner Schicksalswahl - ihr Ergebnis dürfte Signalwirkung haben.