Vergewaltigungsvorwurf

«Frauen haben oft das Gefühl, dass ihnen nicht geglaubt wird»

03.01.2023, 19:41 Uhr
· Online seit 03.01.2023, 05:53 Uhr
Eine damals 20-jährige Frau, wohnhaft in Oftringen, wirft einem Mann vor der Justiz Vergewaltigung vor, zieht später den Vorwurf allerdings zurück. Daraufhin wird die junge Frau angezeigt und zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt. Dieser Vorfall bedarf allerdings einer differenzierten Betrachtung. Warum, erklärt eine Expertin.
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Am 23.Februar 2022 hat eine damals 20-jährige Frau aus Pakistan, wohnhaft in Oftringen, bei der Kantonspolizei Aargau einen damals 22-jährigen Pakistani, wohnhaft in Aarburg, angezeigt. Sie beschuldigte ihn, sie eingesperrt und vergewaltigt zu haben. Konkret sei es gegen ihren Willen und durch Gewaltausübung des Beschuldigten zu Geschlechts- und Oralverkehr zwischen den beiden gekommen, heisst es im Strafbefehl. Daraufhin wird der Beschuldigte an seinem Wohnort angehalten und ins Zentralgefängnis überführt, aus dem er tags darauf wieder entlassen wird.

Knapp zehn Tage später teilt die junge Frau der polizeilichen Sachbearbeiterin am Vormittag wiederholt mit, dass der Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen stattgefunden habe. Am Nachmittag desselben Tages kontaktiert die 20-Jährige die Sachbearbeiterin erneut, um ihr mitzuteilen, dass der Geschlechtsverkehr doch nicht gegen ihren Willen stattgefunden habe. Am nächsten Tag sagt sie bei einer erneuten Polizeibefragung aus, es habe keine Vergewaltigung gegeben und der Sex wäre einvernehmlich gewesen.

Sprachliches Missverständnis und Wut 

Laut Strafbefehl habe sie die Anschuldigungen folgendermassen begründet: Es sei zu einem sprachlichen Missverständnis zwischen der jungen Frau und der Polizei gekommen und darüber hinaus sei sie wütend auf den jungen Mann gewesen. Entsprechend habe sie den 22-Jährigen bei den Behörden eines Verbrechens beschuldigt mit der Absicht, eine Strafverfolgung gegen ihn herbeizuführen. Daher ist die junge Frau zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt worden sowie zu einer Busse von 500 Franken und einer Strafbefehlsgebühr von 1000 Franken.

Der Fall wirft Fragen auf. «Zuerst muss festgehalten werden, dass dieser Fall nicht eindeutig ist», sagt Korina Stoltenberg, Sozialpädagogin und Mediatorin der Opferberatung Aargau, im Gespräch mit ArgoviaToday. «Wir wissen einfach nicht, was alles dahintersteckt.» Das könne Angst, Druck der Familie, ein kultureller Druck – beide kommen aus Pakistan – sein. Dazu müsse man sich auch fragen, wie die Beziehung der beiden ist. «Das alles wissen wir nicht, daher können wir nur mutmassen», fügt Stoltenberg an.

Was allerdings feststeht: Die Frau hat wiederholt gesagt, dass der Verkehr gegen ihren Willen passierte, anschliessend zog sie den Vorwurf wieder zurück. «Daraus lässt sich schliessen, dass die junge Frau zu dem Zeitpunkt in einer grossen Not war.» Welche Gründe auch dahinterstecken mögen, ob ein sexueller Übergriff stattfand oder nicht, ob es nur ein Teileinverständnis gab, es muss eine Not gegeben haben, um diesen Schritt zu gehen und bei der Polizei eine Anzeige zu machen, dass sie den Vorwurf anschliessend bekräftigt, diesen kurz darauf wieder zurückzieht und eine Strafe in Kauf nimmt. «Zwischen der Anzeige, der Bekräftigung des Vorwurfs und des Zurückziehens muss etwas passiert sein und wir wissen nicht, was es ist.»

Für Stoltenberg steht fest, dass diese Situation für alle Beteiligten – Frau, Mann, Polizei und Staatsanwaltschaft – sehr unangenehm sei. «Für einen Mann ist das natürlich unangenehm, wenn dieser beschuldigt wird und die Vorwürfe entsprechen nicht der Wahrheit. Das bleibt auch an einem Mann haften», so die Sozialpädagogin. Daher sei dies auch im Strafgesetzbuch verankert, dass man dies nicht machen darf.

Glaubwürdigkeit leidet darunter

Jedoch zeigen viele Frauen eine Vergewaltigung nicht anNicht nur in der Schweiz, sondern weltweit. Das könne zum einen kulturell bedingt sein, zum anderen spielt auch immer Scham eine Rolle. «Ich arbeite in der Opferberatung und da ist es schon so, dass mehr Frauen als Männer von einem Sexualdelikt betroffen sind.» Oft würden Frauen die Übergriffe erdulden, ohne sich zu wehren. Und wenn man dann nach langer Zeit beschliesst, eine Anzeige zu erstatten, ist das dann sehr mutig. Generell gehören Vergewaltigungen zu den häufigsten Beratungsthemen.

Hierbei betont die Sozialpädagogin, dass die Glaubwürdigkeit eine grosse Rolle spiele. «Damit wird diese für andere Opfer aufs Spiel gesetzt, die sich anschliessend fragen müssen, ob ihnen denn geglaubt wird nach so einem Vorgehen.» Für Frauen, die einen sexuellen Übergriff überlebt haben, ist es wichtig, dass ihnen geglaubt wird. Es sei schon ein wichtiger Schritt, den Vorfall bei der Polizei zu melden, das Erlebte nochmals wiederzugeben, das sind Ausnahmesituationen, in denen sich die Frauen befinden. Und eine falsche Anschuldigung kann die Glaubwürdigkeit extrem erschüttern. «Allerdings würde ich diesen Fall nicht zu sehr in den Fokus setzen, es ist ein Ausnahmefall und man darf nicht vergessen, dass die 20-Jährige sich in Not befand.»

Dazu hebt Stoltenberg hervor, dass «es sehr selten ist, dass eine Frau aus reiner Boshaftigkeit heraus so einen Vorwurf zur Anzeige bringt». Ist dies jedoch der Fall, stellt sich hierbei die Frage, ob es denn für die Frau keine andere Möglichkeit, keine andere Lösung gegeben hat. «Das kann natürlich kulturell bedingt sein oder dass weder die Frau noch der Mann eine gute Streitkultur entwickelt haben, dass sich die Frau in eine Sackgasse manövriert oder tausend und einen weiteren Grund für so ein Vorgehen hat.» Die betroffenen Personen müssen mit ihren Erfahrungen und in ihrem sozialen Kontext betrachtet werden. «In so einem Fall greift einfach kein Schwarz-oder-Weiss-Denken.»

Revidierung des Sexualstrafrechts 

Es gibt Betroffene, die einen Übergriff erlebt haben und zur Polizei gehen und da braucht es Hilfe und Unterstützung. «Oft haben die Frauen das Gefühl, dass ihnen nicht geglaubt wird.» In dieser Situation kann die Opferhilfe Unterstützung bieten. «Ich hoffe auf das revidierte Sexualstrafrecht, auf eine Zustimmungslösung, auf die Ja-heisst-Ja-Lösung.» Damit würde der Fokus auf die Zustimmung gelegt und nicht auf die Ablehnung. «Das Verhalten der Täterschaft wird in den Vordergrund gestellt: Haben Sie die Zustimmung eingeholt? Und nicht, ob sich die Opfer gewehrt haben.»

Dass das Opfer eines Sexualdelikts beweisen muss, dass es nicht zugestimmt und sich gewehrt hat, macht den Schritt zur Anzeige für Betroffene eher beschwerlich. Vor allem das Ausfragen bei der Polizei und damit verbunden das nochmalige Erleben ist sehr belastend. «Denn dabei wird ausser Acht gelassen, dass man sich nicht immer in solchen Situationen wehren kann. Das ist auch psychologisch bedingt, dass man erstarrt», so Stoltenberg. Und diesem Umstand wird aktuell im Sexualstrafrecht keine Rechnung getragen. Vier-Augen-Delikte seien immer schwierig und heikel. «Es sollte nicht sein, dass ein Opfer beweisen muss, dass es ein Opfer ist, sondern die Täterschaft sollte darlegen, dass sie die Tat nicht begangen hat.»

Als Gesellschaft können wir weiterhin an der Gleichberechtigung arbeiten, meint die Sozialpädagogin. «Und die kann ich in der Erziehung weitergeben, aber muss sie auch selbst leben. Dazu ist es wichtig, die Sorgfalt zueinander zu pflegen – darunter fallen auch Nachbarschaftshilfe, aber auch Zivilcourage, wenn ich sehe, jemand braucht meine Hilfe und Unterstützung.»

veröffentlicht: 3. Januar 2023 05:53
aktualisiert: 3. Januar 2023 19:41
Quelle: ArgoviaToday

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