«Wiehnacht för alli»

Wir müssen mehr über Armut reden

20.12.2022, 12:10 Uhr
· Online seit 19.12.2022, 20:46 Uhr
Rund einen Monat lang hat unsere Reporterin die Radio-Geschenk-Aktion hautnah begleitet und dabei Menschen getroffen, die unter Armut leiden. Warum es wichtig ist, ihre Geschichten zu erzählen, zeigte sich dabei einmal mehr. Ein Erfahrungsbericht.
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Jede zwölfte Person in der Schweiz ist von Armut betroffen. Viele davon leben im Verborgenen. Im Rahmen der Hilfsaktion «Wiehnacht för alli» habe ich zehn Familien im Aargau besucht und porträtiert. Dabei habe ich zehn ganz unterschiedliche Geschichten und Schicksale erfahren, die alle eine Gemeinsamkeit haben: Das Geld am Ende des Monats reicht meist gerade so, um über die Runden zu kommen, viele sind auf Sozialhilfe angewiesen.

Die Gründe für die Armut sind unterschiedlich – eine Familie etwa hat sich vor Jahren verschuldet und zahlt noch immer ab, eine junge Frau wurde früh schwanger, ein Paar flüchtete vor einigen Jahren aus der Türkei und wartet noch immer auf Asyl.

Traditionelle Rollenbilder begünstigen Armut

Erschreckend finde ich vor allem eines: In sieben der zehn Familien traf ich auf alleinerziehende Mütter. Auf Familien, die in die Armut abrutschten, nachdem der Vater sie verlassen hatte. Noch immer sind traditionelle Rollenbilder verbreitet: Der Mann, der arbeitet und das Geld nach Hause bringt, während die Frau die unbezahlte Haus- und Familienarbeit leisten muss. Diese Umstände tragen dazu bei, dass Frauen oft keine eigene Existenzsicherung haben und wirtschaftlich abhängig sind. Vier von den sieben alleinerziehenden Müttern erlebten ausserdem Gewalt, einige über mehrere Jahre. Trotz psychischer und physischer Gewalt schafften sie es lange nicht, ihre Ehemänner anzuzeigen oder zu verlassen. Alle aus dem gleichen Grund: Aus Angst, als Alleinerziehende nicht über die Runden zu kommen.

Jede zwölfte Person von Armut betroffen

Die  Schweiz gilt als Wohlstandsland mit einer überdurchschnittlich florierenden  Wirtschaft.  Trotzdem gibt es Armut in der Schweiz. Aktuelle Zahlen vom Bundesamt für Statistik zeigen: Im Jahr 2020 lebten 722'000 Menschen oder 8,5 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Das ist jede zwölfte Person. Fast noch einmal so viele leben am Existenzminimum. Sprich: Etwa jede sechste Person in der Schweiz ist gefährdet, in die Armut abzurutschen. Corona und Inflation dürften die Situation zusätzlich verschärft haben.

Armut findet oft im Verborgenen statt

Die Familien, die ich besucht habe, beschrieben sich tendenziell als zurückgezogen lebend. Einerseits aus Scham, aber auch weil sich Familien mit wenig Geld in der Schweiz vieles einfach nicht leisten können. Wer arm ist, kann kaum am öffentlichen Leben teilnehmen. Das hat zur Folge, dass Armut im Verborgenen stattfindet und von der Öffentlichkeit so nicht wirklich als Problem wahrgenommen  wird. Um an dieser Situation etwas zu ändern, müssen Armut und deren Folgen vermehrt thematisiert werden. Und: Es müssen Taten folgen.

Bildung für wirtschaftliche Unabhängigkeit

Insbesondere Kinder aus bildungsfernen Familien - und hier ganz besonders die Mädchen - sollten dabei unterstützt werden, mit einer Ausbildung finanzielle Unabhängigkeit zu erreichen. Das verringert auch das Risiko für Altersarmut, von der mehr Frauen als Männer betroffen sind. Veraltete Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern müssen aufgebrochen, die Schaffung bedarfsgerechter und bezahlbarer Kinderbetreuung, kreative Arbeitszeitmodelle für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und bezahlter Arbeit, vorangetrieben werden.

Die Aktion «Wiehnacht för alli» hat mir eines nochmals verdeutlicht: Armut ist in der Schweiz kein Randphänomen, das vernachlässigt werden kann. Und schon in der Schweizer Bundesverfassung heisst es, dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst.

veröffentlicht: 19. Dezember 2022 20:46
aktualisiert: 20. Dezember 2022 12:10
Quelle: ArgoviaToday

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