Analyse

Haben Johnny Depp und Luke Mockridge die #MeToo-Bewegung zerstört?

09.06.2022, 16:46 Uhr
· Online seit 09.06.2022, 16:40 Uhr
Unter Kritikern von #MeToo wird gerade laut das Ende der Bewegung gefeiert. Dabei sind für den Imageschaden ganz andere verantwortlich als prominente männliche Stars und psychisch labile Frauen wie Amber Heard – eine Analyse.
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#MeToo, die Bewegung, die als Hashtag den vielen namenlosen Opfern sexueller Gewalt eine Stimme gibt, war von Anfang an als kollektives Selbstermächtigungsinstrument gedacht. #MeToo wollte auf strukturelle Probleme in unserer Gesellschaft hinweisen, auf die Fehler in diesem kranken System, das Täter schützt und deren Opfer beschämt.

Dank #MeToo können Frauen heute sexuelle Belästigung offensiver ansprechen, haben Firmen erkannt, dass es interne Meldestellen für Opfer sexueller Gewalt braucht. Keine Institution kann es sich heute mehr leisten, Missbrauchsvorwürfe unaufgeklärt unter den Teppich zu kehren, wie der Skandal um den zurückgetretenen Operndirektor am Opernhaus Zürich im letzten Jahr gezeigt hat. Und auch die im Parlament geführte Debatte über das zu revidierende Sexualstrafrecht in der Schweiz würde heute vermutlich anders ablaufen.

Die öffentliche Meinung als Scheiterhaufen

In den letzten Jahren ist es allerdings zum Sport geworden, das Skandalisierungspotenzial prominenter #MeToo-Opfer und Täter auszuschlachten. Nicht nur die Medien selbst sind daran beteiligt – in der Schweiz ist der Fall von Jolanda Spiess-Hegglin das prominenteste Beispiel dafür. Es gibt auch Aktivisten und Influencerinnen, die diese Opfer-Geschichten in den Dienst ihrer eigenen Mission stellen. Seither wird der Erfolg oder Misserfolg dieser Bewegung nur noch daran gemessen, ob die öffentlich gemachten Missbrauchsvorwürfe mit rechtlichen und sozialen Konsequenzen geahndet werden oder nicht.

In diesen Tagen wurde die #MeToo-Bewegung wieder mal auf dem Scheiterhaufen der öffentlichen Meinung verbrannt. Grund ist der vor Gericht ausgetragene Ehezoff zwischen Hollywoodstar und Pirat der Herzen Johnny Depp und seiner Ex-Frau Amber Heard. Dass Depp mit seiner Verleumdungsklage gegen Amber Heard vor Gericht Recht bekam – 2018 hatte sie in einem Meinungsstück in der «Washington Post» über persönliche Gewalterfahrungen in ihrer Ehe geschrieben, ohne Depps Namen explizit zu nennen – werten die Gegner von #MeToo als Erfolg und ihre Anhänger als grosse Niederlage.

#MeToo auf Höhepunkt

Die Stilisierung dieser toxischen Ehe zum #MeToo-Fall rührt auch daher, dass Heards Artikel zu einer Zeit erschien, als die #MeToo-Bewegung zu einem mächtigen Hebel wurde, mit dem prominente Männer aus ihren einflussreichen Posten katapultiert wurden. Monate vor Heards Meinungsbeitrag hatten Hunderte Frauen ihre Stimme gegen den mächtigen Filmproduzenten Harvey Weinstein erhoben. Amber Heard nahm in ihrem Beitrag explizit auf #MeToo Bezug, sprach von einem «transformativen politischen Moment», in dem man sich gerade befinde.

Heute sitzt Weinstein wegen #MeToo als verurteilter Sexualstraftäter eine 23-jährige Haftstrafe ab. Amber Heard hingegen sitzt auf dem Scherbenhaufen ihres Rufes. Wochenlang hatten Internetuser mit Parodien und Memes kollektives Mobbing betrieben. Heard sprach nach der Urteilsverkündung davon, dass Gewalt gegen Frauen nicht mehr ernst genommen werde.

Aus vermeintlichen Tätern werden vermeintliche Opfer

Johnny Depp hingegen ist zum «Posterboy» der #MeToo-Gegner avanciert. Er habe #MeToo besiegt, liest man in den Kommentarspalten und in den Echoräumen der sozialen Medien, wo der Hashtag #MenToo trendet. Depp erhält damit von der Gesellschaft einen ähnlichen Opferstatus zuerkannt wie der deutsche Comedian Luke Mockridge, dessen Ex-Freundin wegen einer versuchten Vergewaltigung erfolglos vor Gericht gezogen war. Ein «Spiegel»-Artikel, in dem weitere Frauen Mockridge sexuelle Übergriffe vorwarfen, musste inzwischen wegen Verleumdung zurückgezogen werden. Feministinnen sehen in dieser Inszenierung von einflussreichen Männern als Opfer schon jetzt einen Backlash.

Aber sagt das alles wirklich etwas über das Scheitern und den Erfolg von #MeToo aus? Ist #MeToo Amber Heard und Johnny Depp deren grösster Gegner? Der Verdacht liegt nah, dass die Bewegung hier für das eigene ideologische Programm vereinnahmt wird. Obwohl #MeToo die Stimmen der Opfer zu Wort kommen lassen möchte, sind es paradoxerweise immer die anderen, die für diese Opfer sprechen.

Stimmung gegen Mockridge

Im Fall von Luke Mockridges Ex-Freundin war es die deutsche Aktivistin Jorinde Wiese, die im Netz mit dem Hashtag #KonsequenzenfuerLuke gegen den Comedian Stimmung machte und dabei Tausende neuer Follower hinter sich scharte. Angesprochen auf die Gefahr der Vorverurteilung zeigte sich Wiese gegenüber dem deutschen Medienmagazin «Zapp» als uneinsichtig.

Auch der Hashtag #JusticeForJohnnyDepp steht für das, was die Internetforscherin Alice Marwick als moralisch motiviertes vernetztes Mobbing bezeichnet hat. Ein Mobbing, mit dem sich auf Youtube-Kanälen viel Geld verdienen lässt.

Idealisierte und realitätsferne Vorstellungen

Einen Schaden zugefügt haben der Bewegung auch die vielen öffentlichen Institutionen und Firmen. Aus Imagegründen oder Angst vor finanziellen Einbussen heucheln viele von ihnen vorschnell moralische Bedenken und distanzieren sich vorschnell von Männern, denen öffentlich sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden. So geschehen bei Luke Mockridge, der 2021 von der Liste des Deutschen Comedypreises gestrichen wurde. So geschehen bei Johnny Depp, dem Disney 2018 die Zusammenarbeit aufkündigte und dessen Filmcharakter Jack Sparrow aus der beliebten «Fluch der Karibik»-Reihe entfernte.

Beispiele wie diese zeigen, wie unreif und überfordert die Öffentlichkeit auf diese Vorwürfe noch immer reagiert, wie idealisiert und realitätsfern die Vorstellungen beider Meinungslager («Weibliche Opfer sexueller Gewalt haben immer recht»/«Männer werden an den Pranger gestellt») sind. Möglich, dass wir mit dem Showdown zwischen Amber Heard und Johnny Depp gerade nicht das Ende von #MeToo erleben, sondern den Beginn einer ehrlicheren Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt, in der auch männliche Opfer und weibliche Täterinnen mitgedacht werden dürfen, ohne dass damit die Anliegen der Bewegung verraten werden. Schliesslich sagte schon die #MeToo-Begründerin Tarana Burke, dass es sich bei #MeToo um keine Frauenbewegung handle, die Männer als Opfer ausschliesse: «Wir können keine Veränderungen herbeiführen, solange sich nicht alle dafür engagieren.»

(Aargauer Zeitung/Julia Stephan)

veröffentlicht: 9. Juni 2022 16:40
aktualisiert: 9. Juni 2022 16:46
Quelle: Aargauer Zeitung

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