Schweiz

«Wenn ich weniger als ein Drittel bezahlt habe, war ich erfolgreich»

Klauen am Self-Checkout

«Wenn ich weniger als ein Drittel bezahlt habe, war ich erfolgreich»

28.02.2023, 08:23 Uhr
· Online seit 28.02.2023, 08:21 Uhr
In der Migros gibt es sie seit 2011, im Coop seit 2013: Self-Checkout-Kassen. Während den einen das Klauen vereinfacht wurde, hat es andere erst dazu angestiftet. So auch Sandra*, welche offen damit umgeht, dass sie regelmässig Lebensmittel mitgehen lässt.
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Ich gehöre zu den Personen, welche ihren Einkauf fast nur noch per Self-Checkout bezahlen. Richtig: Ich bezahle ihn! Wobei ich zugeben muss, dass die Versuchung, ein Produkt nicht einzuscannen, auch bei mir immer wieder mal hochkommt. Es wäre so einfach. Und wenn sie mich kontrollieren, könnte ich immer noch sagen, dass ich es vergessen habe.

Gemacht habe ich es trotzdem erst zwei- oder dreimal und das ist schon einige Jahre her. Mein Gewissen lässt das nicht mehr zu – hat es eigentlich auch damals nicht. Sandra hat dieses schlechte Gewissen nicht. Sie geht offen damit um, dass sie beim Einkaufen regelmässig Produkte mitgehen lässt.

So offen, dass sie es mir zehn Minuten nach unserem Kennenlernen erzählt hat. Ich war bei einer Freundin in der WG zu Besuch. Sandra*, eine Frau Ende 20 aus dem Raum Zürich, war ihre damalige Mitbewohnerin. Wir redeten über vegane Produkte, wobei wir auf eine relativ teure Lachs-Alternative zu sprechen kamen. Unverhohlen offenbarte sie mir, dass sie diese auch gerne esse, ihn aber natürlich nicht bezahlen würde, da er viel zu teuer sei.

Das ist nun ein Jahr her. Letztens lief ich wieder an ebendieser Lachs-Alternative vorbei. Gekauft habe ich sie mir noch immer nicht. Dafür kam mir das Gespräch mit Sandra wieder in den Sinn. Ich kontaktierte sie – und ja, sie klaut noch immer.

«Man erkennt Ladendetektive ziemlich schnell»

Am Telefon erzählt Sandra mehr über ihre Beweggründe: «Ich möchte mich nicht so einschränken, wie ich müsste, wenn ich alles bezahlen würde.» Viele Produkte seien unverhältnismässig teuer – vor allem die veganen. Ausserdem mache es für sie keinen Sinn, dass nur Leute mit mehr Geld die Möglichkeit hätten, sich bessere Produkte zu kaufen.

Zum Klauen kam sie durch ihr Umfeld. «Ich habe Freundinnen, die bereits als Teenie oft in Kleiderläden geklaut haben. Irgendwann habe ich es selbst ausprobiert und gemerkt, dass es eigentlich ziemlich easy ist.» Mittlerweile klaut sie fast nur noch in den grossen Supermärkten. Hier habe sie begonnen, als die Self-Checkout-Kassen aufkamen.

Mittlerweile klaut Sandra nur noch selten beim Self-Checkout. Wie sie es genau macht, möchte sie aber nicht erzählen. «Es gibt noch andere Leute, die das auch so machen, und ich weiss nicht, wer davon finanziell abhängig ist. Eigentlich wissen es auch alle, aber ich möchte nicht, dass Migros und Coop noch mehr in Ladendetektivinnen und Ladendetektive, Überwachung am Self-Checkout und Stichproben investieren. Ausserdem erkennt man die Detektivinnen und Detektive ziemlich schnell und ich finde es gut, wenn es so bleibt.»

«Wenn ich weniger als ein Drittel bezahlt habe, war ich erfolgreich»

Je nachdem, wie es gerade um ihre finanziellen Mittel steht, klaut die Studentin zeitweise mehr oder weniger. Auch im Laden selbst entscheidet sie spontan, ob sie sich sicher genug zum Klauen fühlt. Manchmal zahle sie alles, manchmal aber auch ein Drittel bis zur Hälfte nicht. Es komme auch darauf an, wie viel sie einkauft. Aber: «Wenn ich weniger als ein Drittel bezahlt habe, war ich erfolgreich.»

Wie viel Geld sie bisher durch das Klauen gespart habe, kann sie nicht sagen: «Ich habe den Überblick verloren, aber es waren sicher über 1000 Franken.» Abgezogen seien hier bereits 200 Franken, welche sie bezahlen musste, als sie einmal erwischt wurde. Wie das genau passiert ist, möchte sie ebenfalls nicht erzählen, sie sei aber unstrukturiert vorgegangen.

«Ich legitimiere mir das Klauen damit»

Sandra klaut nur in den grossen Läden wie Migros, Coop oder Alnatura. Ein schlechtes Gewissen hat sie nicht, denn diese würden sowieso genug Umsatz machen: «Gerade seit der Einführung von Self-Checkouts rechnen sie mit dem Anteil Diebstahl und machen trotzdem mehr Umsatz, weil sie bei den Löhnen des Kassenpersonals so viel sparen.» Ihr sei natürlich bewusst, dass Klauen an der Situation, dass Kassiererinnen und Kassierern gekündigt werde, nicht viel ändere. «Aber ich legitimiere es mir damit. Wenn ich nicht klaue, werden deswegen nicht mehr Leute eingestellt und Self-Checkouts abgeschafft.»

Sowohl die Migros als auch Coop betonen, dass durch die Self-Checkouts nicht weniger Personal als vor der Einführung in den Verkaufsstellen beschäftigt werde. Die Migros ergänzt, dass zwar weniger Personal an den bedienten Kassen arbeite, sich das Profil einer Detailhandelsfachperson aber immer weiterentwickle. So würden diese auch Verkaufs- und Beratungsfunktionen, Einsätze im Kundendienst oder technische und logistische Aufgaben wahrnehmen.

Auch die Anschuldigung, die grossen Detailhändler würden sowieso genug Umsatz machen, lässt die Migros nicht gelten: «Die Diebin macht einen groben Überlegungsfehler: Die Migros ist kein börsenkotiertes Unternehmen. Die Gewinne, welche die Migros erzielt, fliessen zurück ins Unternehmen und all seine Projekte und Dienstleistungen. Dank der Gewinne kann die Migros Projekte in der Digitalisierung wie dem ‹Subitogo› lancieren oder die Entwicklung von pflanzenbasierten Produkten oder Investitionen in nachhaltige Projekte ermöglichen.»

«Es ist ein Privileg, dass ich klauen kann»

Ein schlechtes Gewissen hat Sandra hingegen nur gegenüber den Leuten, die vom Klauen abhängig seien, es aber aufgrund der Stigmatisierung nicht machen. «Ich werde weiss und weiblich gelesen und habe deshalb das Privileg, dass ich klauen kann – im Vergleich zu People of Color beispielsweise.» Mit anderen Worten: Als weisse und weibliche Person habe Sandra das Privileg, durch gängige Kontrollmuster zu fallen. Im Gegenteil zu Personen, welche aufgrund von äusserlichen Merkmalen (wie beispielsweise ihrer Hautfarbe) stigmatisiert und dadurch öfters kontrolliert würden.

Einen Grund, mit dem Klauen aufzuhören, hat Sandra nicht. Sie habe auch bereits mit vielen Leuten darüber diskutiert, welche dem Klauen sehr kritisch gegenüberstehen. Das habe sie aber nie dazu veranlasst, mit dem Klauen aufzuhören. Einzig eine sehr strenge Überwachung würde etwas ändern, sagt sie.

*Name von der Redaktion geändert

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veröffentlicht: 28. Februar 2023 08:21
aktualisiert: 28. Februar 2023 08:23
Quelle: ArgoviaToday

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