Nein, überraschend kam Englands 2:0-Sieg im Achtelfinal gegen Deutschland nicht. Vielmehr überraschte, dass die Three Lions in den drei Gruppenspielen lediglich zwei Tore erzielt hatten. So viel Talent wie an dieser EM hat sich in Englands Offensive noch nie gebündelt. Gareth Southgate hat im Sturm die Qual der Wahl aus gleich sieben Top-Spielern. Harry Kane, Raheem Sterling, Bukayo Saka, Jadon Sancho, Phil Foden, Jack Grealish, Marcus Rashford - für wen soll man sich da entscheiden?
Die Qualität im Kader ist einer der Gründe, weshalb sie in England berechtigt vom ersten EM-Titel träumen. Gegen Deutschland sprach eigentlich nur die Historie gegen die Briten. Kein Gegentor und bloss fünf erzielte Tore in vier Spielen zeigen, dass die Stärken der englischen Mannschaft nicht nur in der hochkarätigen Offensive liegen.
Nachfolgend die Schlüssel-Elemente für Englands EM-Erfolg.
Der Trainer
Der Sieg gegen Deutschland war für den permanent kritisch und misstrauisch beäugten Gareth Southgate die Bestätigung, dass sein Weg der richtige ist. 50-jährig und gestählt durch seine Karriere als Nationalspieler, den verschossenen Penalty im EM-Halbfinal 1996 gegen Deutschland und die berüchtigte englische Boulevardpresse, ist der stets besonnene Southgate die richtige Besetzung für den Posten des Nationaltrainers.
«Southgate besitzt eine der wichtigsten Eigenschaften für Trainer auf dem allerhöchsten Level: Er ist sich immer selbst treu», schrieb Ex-Nationalspieler Jamie Carragher im «Telegraph». «Er bedient nicht die öffentliche Bühne. Und anders als einige seiner Vorgänger lässt er sich nicht von den Medien beeinflussen, wenn er seine Mannschaft aufstellt.»
Southgate nominiert nicht nach Marktwerten und Namen, sondern nach Nutzen für das Kollektiv, der Sache dienend. England spielt an der EM nicht mit Spektakel. Aber England gewinnt seine Spiele, und das bislang ohne Gegentor. Den Trainer kümmert nicht, was Andere sagen, er verfolgt die Ziele mit Tunnelblick.
Dass der ehemalige Spieler von Crystal Palace, Aston Villa und Middlesbrough den Umgang mit Talenten beherrscht, hat er in der Nachwuchsabteilung des Verbandes bewiesen, zuerst als Koordinator, dann als Trainer der U21. In 33 Spielen als englischer U21-Nationalcoach holten die Young Lions zwischen 2013 und 2016 27 Siege. Der Punkteschnitt lag bei 2,55, nur drei Spiele gingen verloren.
Die Talente und die Offensive
Der Kurswechsel in der Premier League mit intensivierter Juniorenförderung zahlt sich für das Nationalteam aus. Southgate kann auf eine einmalige Fülle an Talenten zurückgreifen. Von den 25 aktuell wertvollsten Spielern sind sieben Engländer. Das EM-Aus des weltweit wertvollsten Rechtsverteidigers, des Liverpoolers Trent Alexander-Arnold, ist verschmerzbar. Kyle Walker, Kieran Trippier und Reece James sind die Alternativen an der EM. Für Manchester Uniteds Rechtsverteidiger Aaron Wan-Bissaka ist im Nationalteam kein Platz.
Leidtragender der Flut an Talenten in der Offensive ist aktuell Jadon Sancho. Der 21-jährige Ballkünstler von Borussia Dortmund, dessen Megatransfer zu Manchester United beschlossen ist und dessen Passqualitäten wohl nur von Kevin de Bruyne getoppt werden, war an der EM bis jetzt fast gänzlich aussen vor. Weil Captain Harry Kane und Raheem Sterling gesetzt sind, Aston Villas Kreativkopf Jack Grealish und Arsenals Youngster Bukayo Saka überzeugen und sich auch Phil Foden auf höchstem Niveau bewegt, könnte das in diesem Turnier so bleiben.
Die stillen Arbeiter und der Goalie
Kannten Sie vor der EM Kalvin Phillips? Gareth Southgate könnte auf dem Feld zehn Stars auflaufen lassen. Doch er sorgt mit fleissigen Arbeitern im defensiven Mittelfeld für die richtige Balance. Der 25-jährige Rastamann Phillips von Leeds United und der 22-jährige Declan Rice von West Ham United standen bisher stets in der Startformation. Phillips spielte vor anderthalb Jahren noch in der englischen Championship, Rice vollzog 2019 einen Nationenwechsel, nachdem er in Irland die Nachwuchsstufen durchlaufen und drei Freundschaftsspiele für das irische A-Team absolviert hatte.
Wer an einer EM viermal in Folge zu null spielt, verfügt auch über einen Goalie, der höheren Ansprüchen genügt. Seit der 27-jährige Jordan Pickford im Nationalteam zwischen den Pfosten steht, gab es im Land der Fliegenfänger keine Torhüter-Polemik mehr. Die Skepsis nach Pickfords durchwachsener Saison bei Everton ist gewichen.